Eigentlich begann alles mit der Pandemie und dem Krieg um das Toilettenpapier im März 2020. Die Welt da draußen stand auf einmal still und ich war im Grunde genommen dankbar dafür, dass mir eine "Auszeit" auferlegt wurde.
In den ersten Wochen tat die Verschnaufpause ganz gut. Der Frühling stand vor der Tür und ich genoss die Zeit zuhause. Kein Wecker, der mich morgens aus dem Bett klingelte, keine Termine, zu denen ich pünktlich aufkreuzen musste und vor allem keine Angst, dass ich da draußen etwas verpassen könnte.
Anfangs lebte ich in der Illusion, dass schon ganz bald, in naher Zukunft, alles wieder beim Alten wäre. Zurück zur Arbeit, um die Weltgeschichte fliegen, Freunde treffen, das Übliche eben. Aber aus Tage wurden Wochen und die Zeit begann sich wie eine Reihe leerer Räume anzufühlen, die keine Verbindung miteinander hatten.
Da saß ich nun in meinen vier Wänden und starrte auf die weiße Raufasertapete in meinem Zimmer. Ich fing an, über mein Leben zu grübeln. An manchen Tagen zu viel für meinen Geschmack. Irgendwie wurde ich das Gefühl nicht los, dass daran irgendetwas faul war. Und jetzt kommen wir zum eigentlichen Knackpunkt. Ich meine... wer hat denn nicht in der Vergangenheit das ein oder andere Trauma erlebt?
Im April 2020 begann es bei mir wieder mit den Albträumen. Altbekannte Erinnerungen aus der Vergangenheit, die mich mitten in der Nacht schweißgebadet hochschrecken ließen und mit einer Panikattacke und ganz vielen Tränen endeten. Ich hatte keine Ahnung, was in mir vorging. Oder doch? 2012, ein Jahr, nachdem ich nach Berlin gezogen war, wurde bei mir eine posttraumatische Belastungsstörung diagnostiziert und ich begab mich umgehend in Therapie. Ehrlich gesagt hatte ich auch keine andere Wahl, da mein komplettes Leben entgleiste und ich mit den kleinsten Kleinigkeiten überfordert war. Zwei Jahre später endete diese und ich dachte, ich wäre geheilt. Ich fühlte mich stabil.
Doch dieses brodelnde Gefühl, tief in mir drin, begann wieder zu kochen wie ein Chili con Carne, das nur eins garantierte und zwar einen ganzen Haufen Scheiße.
Im Juni 2020, zwei Monate, nachdem die Panikattacken zurückkehrten, besorgte ich mir den Schein für eine Therapie bei meinem Hausarzt. Ich fühlte mich gedemütigt. Als hätte ich versagt. Betrübt lief ich mit dem Zettel in der Hand durch die Nachmittagssonne zurück nach Hause und atmete durch. Mir wurde klar, dass mein Ego, ein paar Minuten zuvor im Praxiszimmer, diese Gefühle in mir ausgelöst hatte. Es verstand nicht, dass ich das einzig Richtige für mich tat. Ich fiel in ein Muster zurück, das mich an die Zeit vor acht Jahren erinnerte und ehrlich gesagt wollte ich nicht mehr dahin zurück.
Zuhause angekommen, setzte ich mich direkt an meinen Laptop und schrieb ungefähr 15 Therapeuten an. Es vergingen Monate, bis ich zum ersten Kennenlerntermin eingeladen wurde.
Es war mittlerweile Ende August und ich saß in einem Zimmer einer Altbauwohnung auf einem roten Samtsessel und erzählte der Fremden vor mir eine Kurzfassung meiner Lebensgeschichte. Gleichzeitig schwirrte mir die Frage durch den Kopf, warum die Therapeuten, mit denen ich zu tun hatte, es sich immer entgegengesetzt zur Fensterfront gemütlich machten. Vielleicht lag es daran, dass es einfach unangenehm war, die ganze Zeit ins Licht zu starren, während man seinem Gegenüber zuhört.
Allerdings wirkte die Therapeutin aus meiner Perspektive eher wie eine göttliche Erscheinung, da ihre Silhouette vom Licht perfekt eingerahmt wurde. Ich senkte meinen Blick und fokussierte das verkratzte Fischgrätparkett, da ich Angst hatte, zu erblinden. Weiße Kreise tanzten vor meinen Augen, während sich meine Geschichte dem Ende neigte, und zehn Minuten später ertönte der Timer, was bedeutete, dass die Stunde vorbei war. Ich verabschiedete mich und lief zu Fuß zurück nach Hause.
Ich blickte nach oben in den blauen Himmel, der nur von ein paar einzelnen, dicken, weißen Wolken behangen war, und vermisste mein Leben vor der Pandemie. Aber wie war mein altes Leben eigentlich? Ganz einfach... ein Serienmarathon von Friends, nur in Dauerschleife. Ich erstickte meine Vergangenheit und traumatischen Erlebnisse immer damit, beschäftigt zu sein. All die Dinge, die mich in den letzten Jahren ablenkten, waren für mich Mittel zum Zweck, um meine Unsicherheiten und Ängste aus dem Weg zu gehen. Deshalb hatte mein altes Leben auch so gut funktioniert. Natürlich gab es Phasen, in denen alte Narben wieder aufbrachen. In den meisten Fällen hatte ich mich jedoch in kürzester Zeit schnell wieder zusammengeflickt.
Mit der Pandemie begann aber ein noch nie dagewesener Stillstand, und ich fühlte mich von meiner Vergangenheit in die Enge getrieben. Da war kein Job, hinter dem ich mich verstecken konnte, kein Treffen mit Freunden, das noch als Ausrede zählte. Ich stand da, blank auf die Knochen, und hasste mich dafür, dass ich mir nie wirklich die Zeit genommen hatte, mich selbst zu verstehen. Ich befand mich im absoluten Ausnahmezustand. Tagsüber hatte ich Angst vor der Zukunft, und in der Nacht holten mich alte Erinnerungen ein. Die Kennenlernstunde gab mir aber in diesem Moment ein wenig Hoffnung. Ich war zu lange auf der Flucht und ehrlich gesagt müde davon. Langsam begriff ich, warum ich immer so rastlos war. Es war der Wille zu überleben.
Ich fühlte mich getrieben, da mein Kopf Angst hatte, dass ich an meiner Vergangenheit zerbrechen könnte, sobald ich mal einen Moment zur Ruhe kam. Aber ich war immer noch am Leben und der beste Beweis dafür, dass mich meine Erlebnisse eher stärker gemacht haben.
Meine Füße gleiteten schneller über den Asphalt und ich hatte das Gefühl abzuheben. In diesem Moment begriff ich, was meine Mutter meinte, wenn sie mir als Kind sagte:
“YOU'RE SPECIAL”
pictures by Eileen Jordan
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